"Alles wird geschändet"
Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy über den Krieg im Irak und den weltweiten Widerstand gegen die amerikanische Hegemonie.
SPIEGEL: Frau Roy, was lösen die Kriegsbilder aus dem Irak bei Ihnen aus?
Roy: Vor allem kämpfe ich darum, meinen Ärger und meine Wut unter Kontrolle zu halten, meinen Verstand und mein inneres Gleichgewicht zu bewahren. Ich versuche, cool zu bleiben. Wer seine Wut nicht mehr beherrschen kann, beginnt zu leiden.
SPIEGEL: Was macht Sie so wütend?
Roy: Dem Schrecken des Krieges im Fernsehen zuzusehen und den Horror der Propaganda zu ertragen. Schließlich damit fertig zu werden, dass uns die Sprache gestohlen wird, wenn unter dem Banner "Iraqi Freedom" Menschen umgebracht werden. Ich habe das Gefühl, alles wird geschändet, als lebten wir in einem Irrenhaus, in dem die Ärzte hochgefährliche Verrückte sind.
SPIEGEL: Der amerikanische General Tommy Franks sagte, dieser Krieg werde wie kein anderer in der Geschichte sein.
Roy: Da hat er ausnahmsweise Recht. Gab es jemals einen Krieg mit einer solchen Vorgeschichte? Vor zwölf Jahren zerbombten die Amerikaner mit ihren Verbündeten den Irak. Anschließend wurden Sanktionen erlassen, die rund anderthalb Millionen Iraker das Leben kosteten. Dann zwingt der Uno- Sicherheitsrat Saddam dazu, sich weitgehend zu entwaffnen ...
SPIEGEL: ... wogegen doch nichts einzuwenden ist.
Roy: Nicht in Ordnung ist allerdings, dass zwei ständige Mitglieder des Sicherheitsrates das Land dann, wenn es am Boden liegt, angreifen. Das ist, als ob Sie jemandem ein Wettrennen vorschlagen, ihm aber vorher die Beine brechen und dann noch darüber lachen, dass er nicht mehr laufen kann. Die Regierung Bush handelt hinterhältig, wenn sie den Irakern jetzt vorwirft, sie würden mit schmutzigen Tricks kämpfen. Was können arme, hoffnungslos unterlegene Menschen denn anderes tun?
SPIEGEL: Wie die Iraker amerikanische Kriegsgefangene vorführten, war gleichwohl ein Bruch der Genfer Konvention.
Roy: So wie das Massaker an den gefangenen Taliban bei Masar-i-Scharif, die Misshandlung der Inhaftierten in Guantanamo Bay oder das Bombardieren von Marktplätzen in Bagdad.
SPIEGEL: Die ganze Welt kann heute live die Feuergefechte in der irakischen Wüste verfolgen. Wie bewerten Sie diese Medienpräsenz?
Roy: Trotz der massiven Propaganda von CNN, BBC und der anderen wichtigen Fernsehsender ist die große Mehrheit - abgesehen von den USA, Großbritannien und Israel - gegen diesen Krieg. Die Menschen lesen zwischen den Bildern; sie lassen sich nicht täuschen. Hier in Indien kommen viele, die mich wegen meiner kritischen Essays nach dem 11. September angegriffen haben, jetzt mit Sprüchen wie "Die Amerikaner sind eine Nation von Mördern".
SPIEGEL: Wie reagieren Sie darauf?
Roy: Ich versuche, sie zu bremsen, und erkläre, dass zumindest mehr als ein Viertel der US-Bürger auch gegen diesen Krieg ist und Hunderttausende gegen ihn auf die Straße gegangen sind. Ich verteidige die amerikanische Zivilgesellschaft.
SPIEGEL: Ist die "Koalition der Willigen" dabei, den Kampf um die Herzen und Köpfe zu verlieren?
Roy: Die Propagandaschlacht verläuft ebenso wenig nach Plan wie der Krieg selbst. In Basra zerstören die Alliierten die Wasserversorgung, sie hungern die Bewohner aus und wundern sich, dass sie nicht dafür gefeiert werden.
SPIEGEL: Sie haben die Vorbereitung des Krieges kritisiert. Denken Sie jetzt, er sollte möglichst schnell mit dem Sturz von Saddams Regime zu Ende gehen, oder hoffen Sie darauf, dass die Iraker Bush und Blair eine Lektion erteilen?
Roy: "Schock und Schrecken", den die amerikanischen Militärs vor dem Krieg ankündigten, flößt ihnen doch jetzt dieser erstaunliche Kampfgeist vieler Iraker ein. Es ist phantastisch, wie sie Widerstand leisten, und es bestätigt meine Hoffnung, dass nicht immer alles nach dem bequemen Kalkül der Mächtigen läuft. Die Armen, Geschlagenen und Erniedrigten haben enorme Reserven von Stolz und Würde. Nehmen wir die Palästinenser: Sollen wir hoffen, dass sie sich der israelischen Übermacht fügen, nur damit dieser schreckliche Konflikt ein Ende findet?
SPIEGEL: Bleibt ihnen denn etwas anderes übrig? Sie sind doch militärisch chancenlos, genau wie die Iraker.
Roy: Richtig, aber es sieht danach aus, dass der Irak unter US-Besatzung ein zweites Palästina wird. Seit zwölf Jahren befindet er sich im Belagerungszustand. Und vergessen wir nicht, dass die Iraker Jahrzehnte gegen die britische Kolonialherrschaft rebelliert haben. Das ist übrigens ein interessanter Punkt. Nicht nur dort, sondern auch in Kaschmir und Palästina ist das britische Empire für die heutigen Konflikte zumindest mitverantwortlich. Es ist eine triste historische Kontinuität, wenn Tony Blair im Irak wieder mal "die Eingeborenen" bombardieren lässt.
SPIEGEL: Ist dieser Krieg die Wiederauferstehung des Kolonialismus?
Roy: Ja, wobei die USA, die ja zunächst dem europäischen Kolonialismus kritisch gegenüberstanden, inzwischen die führende Rolle übernommen haben. Seit dem Zweiten Weltkrieg bombardieren vorwiegend weiße Amerikaner vorwiegend nichtweiße Menschen. Von Korea über Vietnam bis zu Afghanistan und dem Irak führen sie Kriege, aus denen die rassistische Botschaft spricht: Ihr in der Dritten Welt zählt nicht!
SPIEGEL: Sind wirklich die "Stupid White Men", wie sie der amerikanische Oscar-Preisträger Michael Moore nennt, das Problem? Ist es tatsächlich ihre Dummheit - oder sind es blanke Interessen?
Roy: Ich wünschte, sie wären dumm. Sie richten zumindest entsetzliche Zerstörung an. Wobei man nicht vergessen darf, dass die weißen Amerikaner ihre Nation auf den Völkermord an den Indianern und auf die Sklaverei gegründet haben.
SPIEGEL: George W. Bush sprach vor dem Krieg von Amerika als "friedliebendem Land".
Roy: Ich finde das lächerlich, aber die meisten Amerikaner kaufen es ihm ab. Hermann Göring hat in Nürnberg gesagt, dass es einfach sei, das Volk hinter sich zu bekommen, wenn man ihm nur einbläut, dass es angegriffen werde.
SPIEGEL: Bush ist kein Nationalsozialist. Und es gibt eine Reihe guter Gründe dafür, einen derart ruchlosen Diktator wie Saddam Hussein zu stürzen. Diese Gründe werden von praktisch der gesamten Staatengemeinschaft anerkannt.
Roy: Die widerwärtigste Unterdrückung herrschte im Irak in den Jahren, in denen die USA das Saddam-Regime wirtschaftlich unterstützten und aufrüsteten.
SPIEGEL: Dennoch wären die Iraker ohne Saddam Hussein besser dran.
Roy: Im indischen Bundesstaat Gujarat gab es vor einem Jahr von der Regierung geförderte Massaker, bei denen Hindu- Faschisten rund 2000 Muslime schlachteten. Ich fände es eine gute Idee, diese Regierung zu stürzen. Aber sollte die U. S. Air Force deshalb die Menschen in Gujarat mit Cruise Missiles befreien? Jede Gesellschaft muss ihren eigenen Weg finden, Unrecht und Unterdrückung zu bekämpfen.
SPIEGEL: Lehnen Sie jegliche Intervention von außen ab?
Roy: Die internationale Gemeinschaft sollte in Diktaturen die Zivilgesellschaft stärken. Im Irak jedoch geschah durch die Sanktionen das Gegenteil. Saddam Husseins Regime wurde gestärkt.
SPIEGEL: Nehmen wir den Genozid in Kambodscha unter Pol Pot oder das Schlachten in Ruanda: Haben die Vereinten Nationen nicht in bestimmten Situationen die moralische Pflicht, militärisch einzugreifen, um Massenmorde zu verhindern?
Roy: Ich setze viel früher an. Als zum Beispiel die Konfrontation zwischen den Atommächten Indien und Pakistan einem Höhepunkt zutrieb, versuchten die Briten, beiden Seiten weiter Waffen zu verkaufen. Bevor wir uns überlegen, ob wir viele Menschen töten, um damit möglicherweise die Ermordung von noch mehr Menschen zu verhindern, müssen wir uns doch zum Beispiel darüber verständigen, ob die Produktion von Waffen eine derartig große wirtschaftliche Bedeutung haben soll.
SPIEGEL: Ist das nicht weltfremd? Schließlich haben genug Diktatoren bereits genügend schreckliche Waffen.
Roy: Ich sehe es eher so: Wir haben auf der einen Seite die amerikanische Hypermacht mit einem gigantischen Arsenal an Massenvernichtungswaffen. Auf der anderen Seite haben wir verrückte Despoten, die so lange von der Hypermacht unterstützt und bewaffnet werden, wie sie ihr nicht in die Quere kommen.
SPIEGEL: Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen dem 11. September 2001 und den Bomben auf Bagdad?
Roy: Die Anschläge am 11. September waren ein irrationales, gewalttätiges Losschlagen gegen die amerikanische Hegemonie. Der Krieg im Irak, der uns als neue Etappe im Krieg gegen den Terror verkauft werden soll, ist die irrationale, gewalttätige Fortsetzung des Projektes der amerikanischen Hegemonie. Auf der einen Seite ziehen Terroristen Zivilisten für das Handeln ihrer Regierungen zur Verantwortung. Auf der anderen Seite bestrafen diese Regierungen wiederum Zivilisten für die Taten ihrer Regierungen. Ich sehe bei Bin Laden und bei Bush das gleiche Handlungsmuster.
SPIEGEL: Welche Lehren lassen sich aus dem Krieg ziehen?
Roy: Regierungen in der Dritten Welt führt der Krieg vor Augen, dass sie Atomwaffen brauchen, um vor den USA sicher zu sein. Saddams Problem war nicht, dass er Massenvernichtungswaffen hatte, sondern dass er keine hatte, die wirklich abschrecken. Der Krieg schafft also nicht "Frieden und Sicherheit", wie Bush sagt, sondern das Gegenteil, eine unkontrollierbare Spirale der Aufrüstung ...
SPIEGEL: ... und er schürt offenkundig den Hass auf Amerika.
Roy: Amerikanische Firmen haben sich über die ganze Welt ausgebreitet. Militärisch betrachtet sind diese unzähligen kleinen Inseln ein Alptraum, weil sie sich nicht vor Angriffen schützen lassen. Man kann vor jeder US-Boschaft Soldaten postieren, aber nicht vor jeder McDonald's- oder Starbucks- Filiale.
SPIEGEL: Sie haben geschrieben: "Der ganzen Welt ginge es besser ohne einen gewissen Mister Bush." Überschätzen Sie nicht seinen Einfluss als Person?
Roy: Natürlich ist es die imperial denkende politische Elite. Allerdings könnte die US-Regierung mit einem intelligenteren und charmanteren Präsidenten wie Bill Clinton ihr imperiales Handeln besser verschleiern und verkaufen. Es klingt absurd, aber es ist so: Bush ist gut für uns. Er forciert das Streben der USA nach Weltherrschaft derart direkt, arrogant und brutal, dass es alle Welt sofort versteht.
SPIEGEL: Deprimiert Sie als Globalisierungsgegnerin nicht auch die raubeinige Machtpolitik der Amerikaner, weil es Ihr Engagement so aussichtslos erscheinen lässt?
Roy: Ich tue das, was ich tue, nicht, weil ich denke, ich werde gewinnen. Gerade jetzt bin ich aus dem Narmada-Tal in Zentralindien zurückgekommen, wo Tausende Menschen versuchen, den Bau eines ökologisch und sozial katastrophalen Staudamms zu verhindern. Ich bin nicht sicher, ob wir es schaffen. Aber ich tue etwas dagegen, weil ich es tun muss.
SPIEGEL: Was können Menschen, die gegen den Krieg im Irak sind, jetzt unternehmen?
Roy: Das Wichtigste ist es, eine Plattform für gewaltlosen zivilen Ungehorsam zu schaffen. Terrorismus darf nicht zur dominanten Form des Protests werden. Als Gandhi den legendären Salzmarsch begann, war das nicht nur ein symbolischer Akt, sondern er attackierte die wirtschaftlichen Fundamente des Kolonialismus. Der Boykott gegen US-Produkte steht in dieser Tradition.
SPIEGEL: Welche Bedeutung hatte es für Sie, dass die Regierungen von Deutschland, Frankreich, Russland und anderen Ländern gegen die anglo-amerikanischen Kriegspläne opponierten?
Roy: Ich idealisiere keine Regierung, dennoch war es sehr wichtig, dass die Ambitionen der US-Regierung in Frage gestellt wurden. Ich glaube nicht, dass ein Weltpolizist mit vielen Bomben die Welt kontrollieren kann. Deshalb finde ich es sehr ermutigend, wenn ich Bilder vom Europaparlament sehe, in dem viele Abgeordnete Plakate gegen den Krieg zeigen.
SPIEGEL: Könnten die USA nicht patriotischer und gewaltbereiter werden, wenn sie sich immer stärker isoliert fühlen?
Roy: Ich finde sie schon gefährlich genug. Es gibt nur eine Kraft in der Welt, die mächtiger ist als die US-Regierung, und das ist die amerikanische Zivilgesellschaft. Sie muss sich von der Propaganda befreien. Und ich habe eine hohe Meinung von der Fähigkeit von Amerikanern, gegen ihre Regierung aufzustehen.
SPIEGEL: Auf dem Weltsozialforum sagten Sie: "Wir sind viele, sie sind wenige." Aber werden die wenigen freiwillig Macht und Reichtum aufgeben?
Roy: Natürlich nicht. Aber ich rede nicht mit mächtigen Menschen und versuche nicht, sie zu überzeugen. Die wissen doch sehr genau, was sie tun. Ich komme aus einem Land, das einen gewaltlosen Kampf um seine Unabhängigkeit gewonnen hat. Das ist eine phänomenale Sache. Ich bin keine Idealistin, aber ich weiß, dass du dich auch selbst triffst, wann immer du auf jemanden schießt.
SPIEGEL: Der englisch-niederländische Autor Ian Buruma nennt Sie "die perfekte Dritte-Welt-Stimme für anti-amerikanische, anti-westliche oder sogar anti-weiße Gefühle".
Roy: Ach, dieser Vorwurf des Anti-Amerikanismus ist doch zur Allzweckwaffe gegen Kritiker der Außenpolitik Bushs geworden. Dabei sind ausgerechnet Amerikaner ihre schärfsten und besten Kritiker. Ich versuche immer genau zwischen der Regierung, der politischen Elite, der Gesellschaft und der Kultur zu differenzieren. Hier in Indien werde ich zum Beispiel als anti- indisch denunziert, weil ich die Entwicklung der Atomwaffen kritisiert habe.
SPIEGEL: Günter Grass sagte, Sie schrieben mit "Wut, kontrollierter Wut".
Roy: Er hat absolut Recht. Das kommt vom Prosaschreiben. Was ich schreibe, strömt aus mir heraus wie Rauch, aber dann forme ich es und verfeinere es. Niemand will schließlich krude Tiraden lesen. Dabei habe ich den Anspruch, Kompliziertes nicht zu vereinfachen und Einfaches nicht zu verkomplizieren. Ein sehr delikater Tanz.
SPIEGEL: Seit Ihrem Roman "Der Gott der kleinen Dinge" verfassen Sie ausschließlich politische Essays.
Roy: Es gibt dennoch für mich nichts, was das Schreiben von Literatur ersetzen könnte, denn damit lässt sich zeigen, dass die Welt Dinge wie Schönheit und Sanftheit, wie Glück und Musik besitzt. Wenn man nicht fähig ist, Schönheit zu schaffen, wofür kämpft man dann?
SPIEGEL: Warum schreiben Sie dann keinen neuen Roman?
Roy: Weil ich das Gefühl habe, in einer Zeit zu leben, in der Schriftsteller Position beziehen müssen. Ich fühle einen enormen Druck zu antworten. Inzwischen erwarten auch so viele, dass ich zu den großen politischen Fragen Stellung beziehe. Manchmal fürchte ich, da nicht mehr rauszukommen.
SPIEGEL: Frau Roy, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Arundhati Roy www.spiegel.de |