"Der Tag der Schakale"
Arundhati Roy
Mesopotamien. Babylon. Der Tigris und der Euphrat.
Wie viele Kinder in wie vielen Klassenzimmern über wie viele Jahrhunderte sind durch die Vergangenheit gesegelt getragen auf den Flügeln dieser Worte? Und nun sind Bomben gefallen, diese alte Zivilisation in Brand setzend und demütigend.
Auf die Stahlrümpfen ihrer Geschosse haben pubertierende amerikanische Soldaten anschauliche Mitteilungen in kindlicher Handschrift geschmiert: "For Saddam, from Fat Boy Posse." Ein Gebäude brach in sich zusammen. Ein Marktplatz. Ein Wohnhaus. Ein Mädchen, das einen Jungen liebte. Ein Kind, das nur mit den Murmeln seines älteren Bruders spielen wollte.
Am 21. März, dem Tag nach dem Beginn des illegalen Einsatzes und der illegalen Besetzung des Iraks durch amerikanische und britische Truppen, befragte ein "integrierter" CNN-Korrespondent einen amerikanischen Soldaten. "Ich will da rein und aufräumen!", sagte der Gefreite A.J.: "Ich will Vergeltung für den 11. September!" Dem Korrespondenten muss man zugute halten, dass er, obschon "integriert", immerhin schwächlich andeutete, dass es bislang keinen wirklichen Beweis gebe, der die irakische Regierung und die Ereignisse des 11. Septembers 2001 in Verbindung setzte. Soldat A.J. ließ seine Zunge bis übers Kinn gleiten: "Ach nun, das Zeug is mir zu hoch."
Zur Zeit des Einmarsches der Vereinigten Staaten in den Irak schätzte eine Umfrage von CBS und New York Times, dass 42% der Amerikaner Saddam Hussein direkt für die Angriffe aufs World Trade Center und aufs Pentagon verantwortlich machten. Eine Umfrage der ABC-Nachrichten stellte fest, dass 55% der Amerikaner glaubten, dass Saddam Hussein Al Qaida unmittelbar unterstütze. All diesen Meinungen liegt kein Beweis zugrunde (weil es ihn nicht gibt). Sie alle beruhen auf Anspielungen, auf Selbstbetrug, auf glatten Lügen, die von den Medienunternehmen in Umlauf gebracht worden waren. Öffentliche Unterstützung für den Irakkrieg der USA gründete sich auf einem vielschichtigen Komplex aus Falschheit und Betrug, koordiniert durch die US-Regierung und ergeben unterstützt von der Presse. Da waren die erfundenen Verbindungen zwischen dem Irak und Al-Qaida. Die selbst gemachte Hysterie über Iraks "Massenvernichtungswaffen". Keine Massenvernichtungswaffen konnten gefunden werden. Nicht einmal eine kleine.
Nun, nachdem der Krieg geführt und gewonnen und die Verträge über den Wiederaufbau gezeichnet und besiegelt sind, berichten die New York Times, dass "der CIA begonnen habe zu untersuchen, ob sich die amerikanischen Geheimdienste vor Kriegsbeginn in ihren Aussagen über Saddam Husseins Regierung und Iraks Waffenprogramme geirrt haben." Derweil wurde ganz am Rande eine alte Zivilisation gelegentlich verheert von einer sehr jungen, gelegentlich gewalttätigen Nation.
Während über eines Jahrzehnts aus Krieg und Sanktionen haben amerikanische und britische Einheiten tausende Geschosse und Bomben auf den Irak niedergehen lassen. Iraks Felder und Weiden sind mit dreihundert Tonnen abgereicherten Urans beschossen worden. Auf ihren Angriffsflügen griffen die Alliierten Wasseraufbereitungsanlagen an, obschon sie darum wussten, dass sie nicht ohne Hilfe aus dem Ausland zu reparieren wären. Im Südirak gab es einen vierfachen Anstieg der Krebsfälle bei Kindern.
Im Jahrzehnt wirtschaftlicher Sanktionen, dass auf den ersten Krieg folgte, verweigerte man irakischen Zivilisten Medizin, Krankenhausausrüstung, Rettungstransportwagen, sauberes Wasser - das Nötigste. Über eine halbe Million irakischer Kinder starben als Folge dieser Sanktionen.
Die Medienunternehmen spielten eine unbezahlbare Rolle, indem sie Nachrichten über die Zerstörung des Iraks und seiner Bevölkerung von der amerikanischen Öffentlichkeit fernhielten. Sie haben nun mit der Vorbereitung von Kriegen gegen Syrien und den Iran mit derselben Routine aus Lügen und Hysterie begonnen - und wer weiß, vielleicht auch gegen Saudi Arabien.
Vielleicht wird der nächste Krieg das Juwel in der Krone von Bushs Wahlkampf 2004 darstellen. Obgleich er nicht unbedingt zu solch drastischen Mitteln greifen muss, zumal die Demokraten erklärten, dass ihre Strategie für die Wahl 2004 darin bestehe, den Republikanern Schwäche in Fragen der inneren Sicherheit vorzuwerfen. Das ist, als ob ein jugendlicher Schläger aus der Provinz der Mafia zu viele Skrupel vorwürfe. Es sieht aus, als ob die amerikanischen Präsidentschaftswahlen zu einer völligen Zeitverschwendung ausarten werden. Obschon das nicht eigentlich eine Überraschung ist.
Die US-Invasion des Iraks war vermutlich der feigste Krieg aller Zeiten. Nachdem man die "gute Autorität" der UN-Diplomatie benutzte (Wirtschaftssanktionen und Waffeninspektionen) um sicherzustellen, dass der Iraks auf die Knie gezwungen würde; nachdem sichergestellt war, dass die meisten seiner Waffen zerstört waren, schickte die "Koalition der Willigen", besser bekannt als die Koalition der Gezwungenen und Gedungenen, eine Invasionsarmee. Dann kündeten die Medienunternehmen freudenvoll, dass die Vereinigten Staaten einen gerechten und überraschenden Sieg erzielt hätten.
Fernsehzuschauer wurden Zeuge der Freude, welche die US-Armee den gewöhnlichen Irakern brachte: All diese frisch befreiten Menschen, die amerikanische Flaggen schwenkten, die sie irgendwie während der Jahre der Sanktionen angehortet haben müssen. Und dass die Umstürzung von Saddam Husseins Statue auf dem Firdosplatz (die wieder und wieder im Fernsehen gezeigt wurde) sich als das Werk einer Handvoll Mietlinge herausstellte, die von der US-Marineinfanterie abgestimmt wurden. Robert Fisk nannte es "die bestgezeigte Fotoinszenierung seit Iwo Jima". (1)
Und nicht zu vergessen, dass in den darauf folgenden Tagen amerikanische Soldaten auf eine Gruppe friedlicher, unbewaffneter irakischer Demonstranten schossen, die den Abzug der US-Einheiten forderten. Fünfzehn Menschen wurden totgeschossen. Dass einige Tage später US-Soldaten zwei weitere Menschen töteten und diverse verletzten, als diese gegen die Tötung von friedlichen Demonstranten demonstrierten. Dass sie 17 weitere Menschen in Mosul ermordeten. Dass sie dieses Töten auch in Zukunft fortsetzen werden (wenn auch nicht im Fernsehen).
Dass das aufgeklärte Land zu religiöser Sektiererei getrieben wird. Dass die US-Regierung Saddam Hussein geholfen hatte, an die Macht zu kommen, und ihn während seiner schlimmsten Verbrechen einschließlich des acht Jahre dauernden Krieges gegen den Iran und der Vergasungen von Kurden 1988 in Halabja unterstützte; Verbrechen, die 14 Jahre später aufgewärmt wurden und als Rechtfertigungsgründe für den neuen Irakkrieg dienten. Dass nach dem ersten Golfkrieg die Alliierten eine Erhebung von Schiiten in Basra entfachten und dann wegsahen, als Saddam Hussein die Revolte zerschmetterte und Tausende in einem Akt der Rache dahinschlachtete.
Nach der Invasion löste sich das gierende Interesse westlicher Fernsehsender an neu entdeckten Massengräbern schnell in Luft auf, nachdem sie bemerkten, dass es sich um irakische Leichen aus dem Krieg gegen den Iran und der schiitischen Erhebung handelte... Die Suche nach einem angemessenen Massengrab geht weiter. Nicht zu vergessen, dass US-amerikanische und britische Truppen Befehle hatten, Menschen nicht zu beschützen, sondern zu töten. Ihre Schwerpunkte waren eindeutig; Sicherheit und Schutz für das irakische Volk waren nicht ihre Aufgabe. Die Sicherung der kümmerlichen Überreste der irakischen Infrastruktur war nicht ihre Aufgabe. Aber Sicherung und Schutz der irakischen Ölfelder fielen darunter. Die Ölfelder wurden fast schon "gesichert", bevor die Invasion überhaupt begann.
Es lohnt sich festzustellen, dass der Wiederaufbau Afghanistans, das sich in einer viel schlimmeren Situation als der Irak befindet, nicht denselben apostolischen Enthusiasmus wie der Wiederaufbau des Iraks hervorgebracht hat. Selbst die Gelder, die Afghanistan öffentlich versprochen worden waren, sind großteils nicht überwiesen worden. Könnte es daran liegen, dass Afghanistan über kein Öl verfügt? Es hat eine Ölleitung, schon, aber kein Öl. Folglich gibt es nicht viel Geld, das dem besiegten Land genommen werden kann. Andererseits erzählte man uns, dass der Wiederaufbau des Iraks die Weltwirtschaft in Schwung bringen könnte: Schon lustig, wie die Interessen amerikanischer Unternehmen so häufig, so erfolgreich und so sorglos mit denen der Weltwirtschaft verwechselt werden. Über Iraks Öl für die Iraker und einen Krieg für Befreiung und Demokratie und eine repräsentative Regierung zu reden hatte einen ihm gemäßen Ort und Zeitpunkt. Es hatte seinen Nutzen. Doch die Dinge sind nun anders geworden ...
Nachdem er eine 7000 Jahre alte Zivilisation in die Anarchie geleitet hatte, verkündete George Bush, dass die USA im Irak "auf unbestimmte Zeit" bleiben würden. Die USA verkündeten praktisch, dass der Irak nur dann eine repräsentative Regierung haben könne, wenn diese die Interessen angloamerikanischer Ölgesellschaften verträte. Mit anderen Worten: Du kannst frei deine Meinung äußern, solange du sagst, was ich will, dass du sagst.
Am 17. Mai schrieben die New York Times: "In einer plötzlichen Kehrtwende haben die USA und Großbritannien ihren Plan unbegründet fallengelassen, den irakischen Oppositionskräften zu erlauben, am Monatsende eine Nationalversammlung zu formen und eine provisorische Regierung einzusetzen. Stattdessen teilten führende amerikanische und britische Diplomaten, die mit der Leitung des Wiederaufbaus beschäftigt sind, den Exilantenführern auf einem Treffen am Abend mit, dass alliierte Behörden die Verwaltung des Iraks auf unbestimmte Zeit fortsetzen würden."
Lange vor Beginn der Invasion zitterten die globalen Handelsunternehmen dem Geld entgegen, dass der Wiederaufbau des Iraks kosten würde. Es wurde etikettiert als "das größte Wiederaufbauprojekt, seit der Marshallplan Europa nach dem zweiten Weltkrieg wieder auferstehen ließ." Bechtel GmbH mit Hauptsitz in San Franzisko ist das führende Schakalrudel, das in den Irak einzieht. Zufällig gehört der frühere Außenminister George Schultz zu den Direktoren von Bechtel und war auch Vorsitzender der Beraterkommission der "Gesellschaft zur Befreiung des Iraks".
Als er von den New York Times gefragt wurde, ob er besorgt über einen daraus entstehenden Interessenkonflikt sei, antwortete Schultz: "Ich wüsste nicht, dass speziell Bechtel davon profitieren würde. Doch wenn Arbeit getan werden muss, ist Bechtel die Art Unternehmen, das damit fertig wird. Niemand aber sieht das als etwas an, aus dem es Profit zu schlagen gilt." Bechtel hat bereits Verträge über 680 Mio. US-Dollar, aber laut New York Times "sagen unabhängigen Schätzungen, dass sich die Kosten, die im von Bechtel vertraglich mit der US-Agentur für Internationale Entwicklung festgelegten Bereich anfallen werden, am Ende auf 20 Mrd. US-Dollar belaufen werden."
In einem Artikel mit dem passenden Titel "Fütterungshysterie im Anmarsch, weil Unternehmen überall auf der Welt ihren Anteil am Unternehmen haben wollen" bemerken die Times (ohne Ironie), dass "Regierungen überall auf der Welt und die Unternehmen, deren Sache sie vertreten, Washington im Zuge einer Kampagne unter Belagerung genommen haben, die darauf abzielt, einen Teil der Wiederaufbauunternehmen für sich zu gewinnen." "Obschon sie ihre Ansprüche auf moderate Weise ins Feld führen," vermerkt der Artikel, "führen die Briten an, was einige der Beamten der Bush-Administration für das überzeugendste Argument halten: dass sie Blut im Irak vergossen haben."
Wessen Blut vergossen wurde, wurde nicht klargestellt. Sicherlich war nicht britisches Blut gemeint oder amerikanisches. Sie müssen gemeint haben, dass die Briten den Amerikanern halfen, irakisches Blut zu vergießen." So ist also das "überzeugendste Argument" für Wiederaufbauverträge im Irak, wenn ein Land anführen kann, dass es am Mord an den Irakern mit beteiligt war.
Lady Simons, die stellvertretende Vorsitzende des britischen Oberhauses, reiste jüngst mit vier Industrieführern mach Amerika. Abgesehen vom Erheben ihrer Ansprüche aus ihrem Status als Mit-Mörder heraus berief sich die britische Delegation auch auf ihre kolonialistische Vergangenheit, erneut ohne Ironie, indem sie anführte, dass britische Unternehmen "seit den imperialen Tagen Anfang des 20. Jahrhunderts lange und enge Beziehungen mit dem Irak und dem irakischen Handel hatten, bis die internationalen Sanktionen in den 90er Jahren errichtet wurden." Am Rande heißt das natürlich auch, dass Großbritannien Saddam Hussein während der 70er und 80er Jahre unterstützt hat.
Diejenigen von uns, die zu ehemaligen Kolonien gehören, verstehen Imperialismus als Vergewaltigung. So raubt ihr. Dann tötet ihr. Dann fordert ihr, die Leichen zu vergewaltigen. Das ist gewöhnlich als Nekrophilie bekannt. Diese Furcht erregende Analogie noch weiter belastend sagte Richard Perle vor kurzem: "Die Iraker sind heutzutage freier und wir sind sicherer. Entspannt euch und freut euch darüber!"
Ein paar Tage nach Kriegsbeginn sagte der Nachrichtensprecher Tom Brokaw: "Etwas, was wir nicht wollen, ist die Zerstörung der Infrastruktur Iraks, da wir dieses Land in ein paar Tagen beherrschen werden." Jetzt werden die Besitzübertragungsurkunden unterzeichnet. Irak ist kein Staat mehr. Er ist ein Vermögenswert. Er wird nicht länger beherrscht. Er wird besessen.
Und in der Hauptsache wird er von Bechtel besessen. Vielleicht werden Halliburton und ein britisches Unternehmen oder zwei ein paar Knochen abbekommen. Unser Kampf muss sich sowohl gegen die Besetzer als auch gegen diese neuen Besitzer des Iraks richten!
von Arundhati Roy - übersetzt von: Benjamin Brosig
Orginalartikel: "The Day Of The Jackals"
(1) Die bronzene Figurengruppe mit der Flaggenerrichtung im Mittelpunkt erinnert an die Eroberung der Insel Iwo Jima während des 2. Weltkrieges. Damals versuchten 110.000 Marines die Insel zu erobern, wo sich in den verlassenen Bergwerkstollen über 21.000 Japaner verschanzt hatten. Die Eroberung dieser strategisch wichtigen Insel kostete allen Japanern und ca. 26.000 Marines das Leben.