Wut ist der Schlüssel
Nicht Salman Rushdie, sondern die vierzigjährige Arundhati Roy ist die literarische Stimme Indiens, die von den Taten und Qualen der Globalisierung in ihrem Land berichtet. Roy ist längst die berühmteste und erfolgreichste Schriftstellerin des Landes. In vielen westlichen Ländern gilt sie als wichtigste Schriftstellerin des Subkontinents. Als politische Aktivistin ist Roy wiederholt in Konflikt mit den indischen Behörden geraten, zuletzt wegen ihrer Proteste gegen die indische Atomwaffenpolitik.
In ihren politischen Schriften artikuliert sich das radikale Bewusstsein jener intellektuellen Schicht, die nicht nur in Indien, sondern auch in Pakistan die sozialen
Konflikte primär als Folgen der Globalisierung, also als Ergebnisse "westlicher" Politik interpretiert. Ungeachtet der besonnenen amerikanischen Politik sind im Atomgürtel
Pakistan/Indien viele Menschen voller Wut auf die Vereinigten Staaten und die Kultur der Globalisierung. Wer angesichts des Terroranschlags von New York glaubte, es
werde sich eine moralisch empörte Menschheit um die Amerikaner scharen, sieht sich getäuscht. Im Gegenteil: der Hass wächst. Und Indien hat sich immer noch nicht erklärt,
inwieweit es bereit ist, die Vereinigten Staaten zu unterstützen. Wir haben Arundhati Roy gebeten, uns zu sagen, warum das so ist. Ihr Text, der angesichts der
fortlaufenden Ereignisse die ursprünglich vereinbarte Länge weit überschreitet, beweist, allen Besänftigungsformeln zum Trotz, dass der gegenwärtige Konflikt in den
bevölkerungsreichsten Staaten der Erde als Krieg der Kulturen verstanden wird.
Die Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele Tote sind notwendig, damit es besser zugeht auf der Welt? Usama Bin Ladin ist das amerikanische Familiengeheimnis,
der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten.
Arundhati Roy wurde 1960 im südindischen Bundesstaat Kerala in einer Familie syrischer Christen geboren. Ihr Vater war ein Hindu aus Bengalen. Heute lebt sie in Neu Delhi. 1996 erschien ihr Roman "Der Gott der kleinen Dinge" (Blessing Verlag), der zu einem Welterfolg wurde. Die indischen Behörden zensierten das Buch aus "moralischen" Gründen: Roy beschrieb die verbotene Liebe zu einem Unberührbaren. Als politische Aktivistin hat sie sich mehrfach massiv mit der indischen Regierung angelegt. Was sie soziologisch zur repräsentativen Stimme macht, ist die Tatsache, dass sie die Globalisierung wie einen wirklichen Schmerz, den man ihr zufügt, zu erleben scheint. "In Indien", so hat sie einmal erklärt, "erlebe ich das entsetzliche Schuldgefühl privilegiert zu sein." |
Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist
von Arundhati Roy
Nach den skrupellosen Selbstmordanschlägen auf das Pentagon und das World Trade Center erklärte ein amerikanischer Nachrichtensprecher: "Selten zeigen sich Gut und Böse
so deutlich wie am letzten Dienstag. Leute, die wir nicht kennen, haben Leute, die wir kennen, hingemetzelt. Und sie haben es voller Verachtung und Schadenfreude getan."
Dann brach der Mann in Tränen aus.
Hier haben wir das Problem: Amerika führt einen Krieg gegen Leute, die es nicht kennt (weil sie nicht oft im Fernsehen zu sehen sind). Noch bevor die
amerikanische Regierung den Feind richtig identifiziert, geschweige denn angefangen hat, sein Denken zu verstehen, hat sie, mit großem Tamtam und peinlicher Rhetorik,
eine "internationale Allianz gegen den Terror" zusammengeschustert, die Streitkräfte und die Medien mobilisiert und auf den Kampf eingeschworen. Allerdings wird Amerika,
sobald es in den Krieg gezogen ist, kaum zurückkehren können, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben. Wenn es den Feind nicht findet, wird es, der aufgebrachten
Bevölkerung daheim zuliebe, einen Feind konstruieren müssen. Kriege entwickeln ihre eigene Dynamik, Logik und Begründung, und wir werden auch diesmal aus dem Blick
verlieren, warum er überhaupt geführt wird.
Wir erleben hier, wie das mächtigste Land der Welt in seiner Wut reflexartig nach einem alten Instinkt greift, um einen neuartigen Krieg zu führen. Nun, da Amerika sich
selbst verteidigen muss, sehen die schnittigen Kriegsschiffe, die Cruise Missiles und F-16-Kampfjets auf einmal ziemlich alt und schwerfällig aus. Amerikas nukleares
Arsenal taugt nicht zur Abschreckung. Teppichklingen, Taschenmesser und kalte Wut sind die Waffen, mit denen die Kriege des neuen Jahrhunderts geführt werden. Wut ist
der Schlüssel. Ihn bekommt man unbemerkt durch den Zoll, durch jede Gepäckkontrolle.
Gegen wen kämpft Amerika? In seiner Rede vor dem Kongress bezeichnete Präsident Bush die Feinde Amerikas als "Feinde der Freiheit". "Die Bürger Amerikas fragen, warum
sie uns hassen", sagte er. "Sie hassen unsere Freiheiten - unsere Religionsfreiheit, unsere Redefreiheit, unsere Freiheit zu wählen, uns zu versammeln und nicht immer
einer Meinung zu sein."
Zweierlei wird uns abverlangt. Zum einen sollen wir glauben, dass der Feind der ist, der von dieser Regierung als Feind deklariert wird, obwohl sie keine konkreten
Beweise vorlegen kann. Und zum anderen sollen wir glauben, dass die Motive des Feindes genau so aussehen, wie sie von der Regierung dargestellt werden, obwohl es auch
dafür keine Beweise gibt.
Aus strategischen, militärischen und ökonomischen Gründen muss die amerikanische Öffentlichkeit unbedingt davon überzeugt werden, dass Freiheit und Demokratie und der
American way of life bedroht sind. In der gegenwärtigen Atmosphäre von Trauer, Empörung und Wut ist derlei leicht zu vermitteln. Wenn das tatsächlich stimmt, stellt
sich jedoch die Frage, warum die Anschläge den Symbolen der wirtschaftlichen und militärischen Macht Amerikas galten. Warum nicht der Freiheitsstatue?
Könnte es sein, dass die finstere Wut, die zu den Anschlägen führte, nichts mit Freiheit und Demokratie zu tun hat, sondern damit, dass amerikanische Regierungen genau
das Gegenteil unterstützt haben - militärischen und wirtschaftlichen Terrorismus, Konterrevolution, Militärdiktaturen, religiöse Bigotterie und unvorstellbaren Genozid
(außerhalb Amerikas)?
Unlängst sagte jemand, dass, wenn es Usama Bin Ladin nicht gäbe, die Amerikaner ihn erfinden müssten. In gewissem Sinne haben sie ihn tatsächlich erfunden. Er gehörte zu den Kämpfern, die 1979 nach Afghanistan gingen, als die CIA mit den Operationen begann. Usama Bin Ladin zeichnet sich dadurch aus, dass er von der CIA hervorgebracht wurde und vom FBI gesucht wird. Binnen zweier Wochen avancierte er vom Verdächtigen zum Hauptverdächtigen, und inzwischen will man ihn, trotz des Mangels an Beweisen, "tot oder lebendig" haben. Nach allem, was über seinen Aufenthaltsort bekannt ist, könnte es durchaus möglich sein, dass er die Anschläge nicht persönlich geplant hat und an der Ausführung auch nicht beteiligt war - dass er vielmehr der führende Kopf ist, der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens. Die Reaktion der Taliban auf die amerikanische Forderung, Bin Ladin auszuliefern, war ungewöhnlich realistisch: Legt Beweise vor, dann händigen wir ihn euch aus. Präsident Bush erklärte seine Forderung für nicht verhandelbar. (Da gerade über die Auslieferung von Vorstandsvorsitzenden gesprochen wird - dürfte Indien ganz nebenbei um die Auslieferung von Warren Anderson bitten? Der Mann war als Chef von Union Carbide verantwortlich für die Katastrophe von Bhopal, bei der sechzehntausend Menschen umkamen. Wir haben die nötigen Beweise zusammengetragen, alle Dokumente liegen vor. Also gebt ihn uns bitte!)
Wer ist Usama Bin Ladin aber wirklich? Ich möchte es anders formulieren: Was ist Usama Bin Ladin? Er ist das amerikanische Familiengeheimnis. Er ist der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten. Der brutale Zwilling alles angeblich Schönen und Zivilisierten. Er ist aus der Rippe einer Welt gemacht, die durch die amerikanische Außenpolitik verwüstet wurde, durch ihre Kanonenbootdiplomatie, ihr Atomwaffenarsenal, ihre unbekümmerte Politik der unumschränkten Vorherrschaft, ihre kühle Missachtung aller nichtamerikanischen Menschenleben, ihre barbarischen Militärinterventionen, ihre Unterstützung für despotische und diktatorische Regimes, ihre wirtschaftlichen Bestrebungen, die sich gnadenlos wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen haben. Ihre marodierenden Multis, die sich die Luft aneignen, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, unsere Gedanken. Für die trauernden Amerikaner ist es gewiss schwer, mit Tränen in den Augen auf die Welt zu schauen und eine Haltung zu bemerken, die ihnen vielleicht als Gleichgültigkeit erscheint. Doch es handelt sich nicht um Gleichgültigkeit. Es ist eine Ahnung, ein Nicht-Überraschtsein. Es ist eine alte Erkenntnis, dass jede Saat irgendwann auch aufgeht. Die Amerikaner sollten wissen, dass der Hass nicht ihnen gilt, sondern der Politik ihrer Regierung. Ihnen kann unmöglich entgangen sein, dass ihre außergewöhnlichen Musiker, ihre Schriftsteller, Schauspieler, ihre phänomenalen Sportler und ihre Filme überall auf der Welt beliebt sind. Wir alle waren bewegt von dem Mut und der Würde der Feuerwehrleute, der Rettungskräfte und der gewöhnlichen Büroangestellten in den Tagen und Wochen nach den Anschlägen.
Amerikas Trauer ist immens und immens öffentlich. Es wäre grotesk, von den Amerikanern zu erwarten, dass sie ihren Schmerz relativieren oder mäßigen. Aber es wäre schade,
wenn sie, statt zu versuchen, die Ereignisse des 11. September zu begreifen, das Mitgefühl der gesamten Welt beanspruchten und nur die eigenen Toten rächen wollten.
Denn dann wäre es an uns, unangenehme Fragen zu stellen und harte Worte zu sagen. Und weil wir zu einem unpassenden Zeitpunkt von unseren Schmerzen sprechen, wird man
uns tadeln, ignorieren und am Ende vielleicht zum Schweigen bringen. Doch die Zeichen stehen auf Krieg. Was gesagt werden muss, sollte rasch gesagt werden.
Bevor Amerika das Steuer der "internationalen Allianz gegen den Terror" übernimmt, bevor es andere Länder auffordert (und zwingt), sich an seiner nachgerade
göttlichen Mission - der ursprüngliche Name der Operation lautete "Grenzenlose Gerechtigkeit" - aktiv zu beteiligen, sollten vielleicht ein paar Dinge geklärt werden.
Führt Amerika Krieg gegen den Terror in Amerika oder gegen den Terror ganz allgemein? Was genau wird gerächt? Der tragische Verlust von fast siebentausend Menschenleben,
die Vernichtung von vierhundertfünfzigtausend Quadratmetern Bürofläche in Manhattan, die Zerstörung eines Flügels des Pentagon, der Verlust von Hunderttausenden von
Arbeitsplätzen, der Bankrott einiger Fluggesellschaften und der Absturz der New Yorker Börse? Oder geht es um mehr? Als Madeleine Albright, die ehemalige Außenministerin
der Vereinigten Staaten, im Jahr 1996 gefragt wurde, was sie dazu sage, dass 500 000 irakische Kinder infolge des amerikanischen Wirtschaftsembargos gestorben seien,
sprach sie von einer sehr schweren Entscheidung, doch der Preis sei, alles in allem, nicht zu hoch gewesen. Die Sanktionen gegen den Irak sind übrigens noch immer in
Kraft, und noch immer sterben Kinder. Genau darum geht es: um die willkürliche Unterscheidung zwischen Zivilisation und Barbarei, zwischen "Ermordung unschuldiger
Menschen" oder "Krieg der Kulturen" und "Kollateralschäden". Die Sophisterei und eigenwillige Algebra grenzenloser Gerechtigkeit: Wie viele tote Iraker sind notwendig,
damit es besser zugeht auf der Welt? Wie viele tote Afghanen für jeden toten Amerikaner? Wie viele tote Frauen und Kinder für einen toten Mann? Wie viele tote
Mudschahedin für einen toten Investmentbanker?
Eine Koalition der Supermächte der Welt schließt nun einen Ring um Afghanistan, eines der ärmsten und am stärksten verwüsteten Länder der Welt, dessen Taliban-Regierung
Usama Bin Ladin Unterschlupf gewährt. Das einzige, was in Afghanistan überhaupt noch zerstört werden könnte, sind die Menschen. (Darunter eine halbe Million verkrüppelte
Waisenkinder. Es wird berichtet, dass es zu wildem Gedrängel der Humpelnden kommt, wenn über entlegenen, unzugänglichen Dörfern Prothesen abgeworfen werden.) Die
afghanische Wirtschaft ist ruiniert. Aus Bauernhöfen sind Massengräber geworden. Das Land ist übersät mit Landminen - nach jüngsten Schätzungen zehn Millionen. Eine
Million Menschen sind aus Furcht vor einem amerikanischen Angriff zur pakistanischen Grenze geflohen. Es gibt keine Nahrungsmittel mehr, Hilfsorganisationen mussten
das Land verlassen, und nach Berichten der BBC steht eine der schlimmsten humanitären Katastrophen der jüngsten Zeit bevor.
An der heutigen Lage in Afghanistan war Amerika übrigens in nicht geringem Maße beteiligt (falls das ein Trost ist). Im Jahr 1979, nach der sowjetischen Invasion,
begannen die CIA und der pakistanische Militärgeheimdienst ISI die größte verdeckte Operation in der Geschichte der CIA. Beabsichtigt war, den afghanischen Widerstand zu
steuern und das islamische Element so weit zu stärken, dass sich die muslimischen Sowjetrepubliken gegen das kommunistische Regime erheben und es am Ende destabilisieren
würden. Diese Operation sollte das Vietnam der Sowjetunion sein. Im Laufe der Jahre rekrutierte und unterstützte die CIA fast 100 000 radikale Mudschahedin aus vierzig
islamischen Ländern für den amerikanischen Stellvertreterkrieg. Diese Leute wussten nicht, dass sie ihren Dschihad für Uncle Sam führten. (Welche Ironie, dass die
Amerikaner ebensowenig wussten, dass sie ihre späteren Feinde finanzierten!)
Nach zehn Jahren erbitterten Kampfes zogen sich die Russen 1989 zurück und hinterließen ein verwüstetes Land. Der Bürgerkrieg in Afghanistan tobte weiter. Der Dschihad
griff über nach Tschetschenien, in das Kosovo und schließlich nach Kaschmir. Die CIA lieferte weiterhin Geld und Waffen, doch die laufenden Kosten waren so enorm, dass
immer mehr Geld benötigt wurde. Auf Befehl der Mudschahedin mussten die Bauern Opium (als "Revolutionssteuer" anbauen. Der ISI richtete in Afghanistan Hunderte von
Heroinlabors ein, und zwei Jahre nach dem Eintreffen der CIA war das pakistanisch-afghanistanische Grenzgebiet der weltweit größte Heroinproduzent geworden. Die
jährlichen Gewinne, zwischen einhundert und zweihundert Milliarden Dollar, flossen zurück in die Ausbildung und Bewaffnung von Militanten.
Im Jahr 1995 kämpften sich die Taliban, seinerzeit eine marginale Sekte von gefährlichen Fundamentalisten, in Afghanistan an die Macht. Finanziert wurden sie
vom ISI, dem alten Freund der CIA, und sie genossen die Unterstützung vieler Parteien in Pakistan. Die Taliban errichteten ein Terrorregime, dessen erstes Opfer die
eigene Bevölkerung war, vor allem Frauen. Angesichts der Menschenrechtsverletzungen der Taliban spricht wenig dafür, dass sich das Regime durch Kriegsdrohungen
einschüchtern ließe oder einlenken wird, um die Gefahr für die Zivilbevölkerung abzuwenden. Kann es nach allem, was passiert ist, etwas Ironischeres geben, als dass
Russland und Amerika mit vereinten Kräften darangehen wollen, Afghanistan abermals zu zerstören?
Auch Pakistan, Amerikas treuer Verbündeter, hat enorm gelitten. Die amerikanischen Regierungen haben noch stets Militärdiktatoren unterstützt, die kein Interesse an
demokratischen Verhältnissen im Land hatten. Vor dem Auftauchen der CIA gab es einen kleinen ländlichen Markt für Opium. Zwischen 1979 und 1985 stieg die Zahl der
Heroinsüchtigen von Null auf anderthalb Millionen an. In Zeltlagern entlang der Grenze leben drei Millionen afghanische Flüchtlinge. Die pakistanische Wirtschaft liegt
darnieder. Gewaltsame soziale Konflikte, globalisierungsbedingte Transformationsprozesse und Drogenbosse zerreißen das Land. Die Madrasas und Ausbildungslager für
Terroristen, ursprünglich eingerichtet zum Kampf gegen die Sowjets, brachten Fundamentalisten hervor, die in Pakistan großen Rückhalt haben. Die Taliban, von der
pakistanischen Regierung seit Jahren unterstützt und finanziert, haben in den pakistanischen Parteien materielle und strategische Verbündete. Auf einmal bittet (bittet?)
Amerika die pakistanische Regierung, den Schoßhund, den es in seinem Hinterhof jahrelang großgezogen hat, abzustechen. Präsident Musharraf, der den Amerikanern
Unterstützung versprochen hat, könnte sich bald mit einer bürgerkriegsähnlichen Situation konfrontiert sehen.
Indien kann von Glück reden, dass es, dank seiner geographischen Lage und der Weitsicht früherer Politiker, bislang nicht in dieses Great Game hineingezogen wurde.
Unsere Demokratie hätte das höchstwahrscheinlich nicht überlebt. Heute müssen wir entsetzt mit ansehen, wie die indische Regierung die Amerikaner inständig darum
bittet, ihre Operationsbasis in Indien statt in Pakistan zu errichten. Jedes Land der Dritten Welt mit einer schwachen Wirtschaft und einem unruhigen sozialen
Fundament müsste wissen, dass eine Einladung an eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten (ganz gleich, ob die Amerikaner für länger bleiben oder nur kurz
vorbeischauen wollen) fast so ist, als würde ein Autofahrer darum bitten, ihm einen Stein in die Windschutzscheibe zu werfen.
In dem Medienspektakel nach dem 11. September hielt es keiner der großen Fernsehsender für nötig, ein Wort über die Geschichte des amerikanischen Engagements in
Afghanistan zu verlieren. Für all jene, die von diesen Dingen nichts wissen, hätte die Berichterstattung über die Anschläge informativ und aufrüttelnd sein können,
wenn Zyniker sie vielleicht auch übertrieben gefunden hätten. Für uns aber, die wir die jüngste Geschichte Afghanistans kennen, sind die amerikanische Berichterstattung
und das Gerede von der "internationalen Allianz gegen den Terror" einfach eine Beleidigung. Amerikas "freie Presse" ist dafür genauso verantwortlich wie der "freie Markt".
Die bevorstehende Operation wird angeblich zur Aufrechterhaltung amerikanischer Werte durchgeführt. Doch sie wird noch mehr Zorn und Angst in der ganzen Welt erzeugen,
und am Ende dürften diese Werte völlig diskreditiert sein. Für die gewöhnlichen Amerikaner bedeutet das, dass sie in einem Klima schrecklicher Ungewissheit leben werden.
Schon warnt CNN vor der Möglichkeit eines biologischen Krieges (Pocken, Beulenpest, Milzbrand), der mit harmlosen Sprühflugzeugen geführt werden kann.
Die Regierung Amerikas, und wohl Regierungen überall auf der Welt, werden die Kriegsatmosphäre als Vorwand benutzen, um Meinungsfreiheit und andere Bürgerrechte
einzuschränken, Arbeiter zu entlassen, ethnische und religiöse Minderheiten zu schikanieren, Haushaltseinsparungen vorzunehmen und viel Geld in die Militärindustrie
zu stecken. Und wozu? Präsident Bush kann die Welt ebensowenig "von Übeltätern befreien", wie er sie mit Heiligen bevölkern kann. Es ist absurd, wenn die US-Regierung
auch nur mit dem Gedanken spielt, der Terrorismus ließe sich mit noch mehr Gewalt und Unterdrückung ausmerzen. Der Terrorismus ist ein Symptom, nicht die Krankheit.
Der Terrorismus ist in keinem Land zu Hause. Er ist ein supranationales, weltweit tätiges Unternehmen wie Coke oder Pepsi oder Nike. Beim geringsten Anzeichen von
Schwierigkeiten brechen Terroristen die Zelte ab und ziehen, genau wie die Multis, auf der Suche nach besseren Möglichkeiten mit ihren "Fabriken" von Land zu Land.
Der Terrorismus als Phänomen wird wohl nie verschwinden. Will man ihm aber Einhalt gebieten, muss Amerika zunächst einmal erkennen, dass es nicht allein auf
der Welt ist, sondern zusammen mit anderen Nationen, mit anderen Menschen, die, auch wenn sie nicht im Fernsehen gezeigt werden, lieben und trauern und Geschichten
und Lieder und Kummer haben und weiß Gott auch Rechte. Doch als der Verteidigungsminister Donald Rumsfeld gefragt wurde, was er als einen Sieg im neuen amerikanischen
Krieg bezeichnen würde, meinte er, ein Sieg wäre, wenn er die Welt davon überzeugen könne, dass es den Amerikanern möglich sein müsse, an ihrem way of life festzuhalten.
Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte, wer weiß, von Usama Bin Ladin stammen und von
seinen Kurieren übermittelt worden sein, aber sie könnte durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen.
Die Millionen Toten in Korea, Vietnam und Kambodscha, die 17 500 Toten, als Israel (mit Unterstützung Amerikas) 1982 im Libanon einmarschierte, die 200 000 Iraker,
die bei der Operation Wüstensturm starben, die Tausenden Palästinenser, die im Kampf gegen die israelische Besetzung des Westjordanlands den Tod fanden. Und die Millionen,
die in Jugoslawien, Somalia, Haiti, Chile, Nikaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und
Massenmördern, die amerikanische Regierungen unterstützt, ausgebildet, finanziert und mit Waffen versorgt haben. Und diese Aufzählung ist keineswegs vollständig. Für
ein Land, das an so vielen Kriegen und Konflikten beteiligt war, hat Amerika außerordentlich viel Glück gehabt. Die Anschläge vom 11. September waren erst der zweite
Angriff auf amerikanischem Territorium innerhalb eines Jahrhunderts. Der erste war Pearl Harbor. Die Revanche dafür endete, nach einem langen Umweg, mit Hiroshima und
Nagasaki. Heute wartet die Welt mit angehaltenem Atem auf den Schrecken, der uns bevorsteht.
Nun, da das Familiengeheimnis gelüftet ist, werden die Zwillinge allmählich eins und sogar austauschbar. Ihre Gewehre und Bomben, ihr Geld und ihre Drogen haben sich
eine Zeitlang im Kreis bewegt. (Die Stinger-Raketen, die die amerikanischen Hubschrauber begrüßen werden, wurden von der CIA geliefert. Das Heroin, das von
amerikanischen Rauschgiftsüchtigen verwendet wird, stammt aus Afghanistan. Die Regierung Bush ließ der afghanischen Regierung unlängst 43 Millionen Dollar zur
Drogenbekämpfung zukommen.) Inzwischen werden sich die beiden auch in der Sprache immer ähnlicher. Jeder bezeichnet den anderen als "Kopf der Schlange". Beide berufen
sich auf Gott und greifen gern auf die Erlösungsrhetorik von Gut und Böse zurück. Beide sind in eindeutige politische Verbrechen verstrickt. Beide sind gefährlich
bewaffnet - der eine mit dem nuklearen Arsenal des obszön Mächtigen, der andere mit der glühenden, zerstörerischen Macht des absolut Hoffnungslosen. Feuerball und
Eispickel. Keule und Axt. Man sollte nur nicht vergessen, dass der eine so wenig akzeptabel ist wie der andere.
Präsident Bushs Ultimatum an die Völker der Welt - "Entweder ihr seid für uns, oder ihr seid für die Terroristen" - offenbart eine unglaubliche Arroganz. Kein Volk will
diese Wahl treffen, kein Volk braucht diese Wahl zu treffen und keines sollte gezwungen werden, sie zu treffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung - 28.September 2001 - Nr. 226 / Seite 49
Frankfurter Allgemeine Zeitung