"Das ist ihr Traum - und nun haben sie ihn"



Gore Vidal gilt als spitzzüngig und zynisch, als brillanter Schreiber und begnadeter Besserwisser. Er ist in der Tiefe seines Herzens Patriot und gerade deshalb aus Liebe zur Heimat einer der größten Kritiker seines eigenen Landes - der USA. Über Ronald Reagan sagte er einmal, dieser habe "den Unterschied zwischen den Medicis und den Guccis nie begriffen. Er weiß nur, dass Nancy eins davon trägt."

Gore Vidal, das "Enfant terrible" der amerikanischen Literaturszene wurde 1925 in West Point/New York als Eugene Luther Vidal in eine einflussreiche Politikerfamilie hineingeboren - um ein paar Ecken verwandt mit den Kennedy-Brüdern John F. und Robert und ein entfernter Vetter von Al Gore. Beste Voraussetzungen also, um als Schriftsteller von Anfang an ein politisch denkender Mensch zu sein. Schon mit seinem ersten Roman "Williwaw" (1946) wählte er den Künstler-Vornamen "Gore", eine Hommage an seinen Großvater Thomas Pryor Gore.

Mit seinem zweiten Buch "Geschlossener Kreis" (1948) erschütterte Vidal das bürgerliche Amerika, indem er das Thema Homosexualität und seine eigenen Neigungen thematisierte. Aus finanziellen Gründen verfasste Gore Vidal einige Jahre unter Pseudonym Kriminalromane und Drehbücher, darunter das für den Hollywood-Klassiker Ben Hur. Später schrieb er eine Reihe historischer Romane ("Lincoln", "Empire") und Theaterstücke, die sich kritisch mit Geschichte und Gesellschaft der USA auseinandersetzen. Regelmäßig meldet er sich mit Zeitungskommentaren und Essays zu Wort. Vidal trat des weiteren in Filmen wie Robert Altmans "The Player" und dem Science Fiction-Thriller "Gattaca" in Nebenrollen auf.

In diesem Jahr löste sein Briefkontakt zum hingerichteten Oklahoma-Attentäter Timothy McVeigh - und sein entsprechender Artikel zu diesem Thema eine hitzige Debatte in den Medien aus. Gore Vidal ist Schriftsteller und Politiker zugleich. Zweimal scheiterte er 1960 und 1982 als Bewerber für politische Mandate in Kongress und US-Senat. Seit mehr als 20 Jahren lebt er im süditalienische Ravello "im Exil".


aspekte: Mr. Vidal, wie haben Sie von dem Anschlag erfahren, und was waren Ihre ersten Empfindungen?

Gore Vidal: Ich war hier in Ravello, zu Hause, schaltete CNN ein und da war es gerade passiert, dass das erste Flugzeug in den Turm des World Trade Centers geflogen war. Und ich dachte: Ungefähr vor einem Jahr hielt ich einen Vortrag im Nationalen Presseklub in Washington - ich tue das einmal im Jahr -, ich kam also anschliessend heraus mit einer Gruppe junger Journalisten, wir schauten hinüber zum Capitol und redeten über die amerikanische Außenpolitik - die ich ja im Großen und Ganzen ablehne. Ich sagte zu ihnen: "Was für ein schöner Anblick" - man konnte das Capitol von Weitem sehen - "Ihr werdet lange genug leben, um all das in Trümmern zu sehen. Zum Glück bin ich zu alt, ich werde wohl schon tot sein, wenn das passiert." Und hier stehe ich jetzt, ein Jahr später, und sehe wie das Pentagon Feuer fängt, ich sehe, wie ein Wahrzeichen New Yorks explodiert. Ich hatte nicht gedacht, dass es so bald passieren würde - aber man kann schließlich die Menschen nicht in dem Ausmaß provozieren, wie wir praktisch jedes Land auf der Erde provoziert haben.

Was könnte dieser Anschlag nun für die "Sicherheit" in den USA bedeuten?

Jedes Mal, wenn es einen Terroranschlag irgendwo in den Vereinigten Staaten gibt, fangen sie an die Trommel zu rühren: "Wir müssen Polizisten an jeder Ecke aufstellen, wir müssen Zugang zu euren Bankkonten haben, wir müssen jedermann komplett überwachen." Das ist ihr Traum - und nun haben sie ihn.

War dies ein Anschlag, wie es allenthalben heißt, auf die "gesamte freie, zivilisierte Welt"?

Nein, der Anschlag von letzten Dienstag war ein bewusster Angriff auf die USA, nicht auf den Westen im Allgemeinen - wenn es tatsächlich bin Laden war, und die Tatsache, dass wir denken, dass er es war, lässt mich schon wieder vermuten, dass er es nicht war, denn wir irren uns ständig in diesen Dingen. Wir geben ja in den USA einen Haufen Geld aus, um ständig jemanden zu dämonisieren. Wir haben doch so eine Art "Feind-des-Monats-Club": vorher war es Ghaddafi, davor Noriega usw. Und unsere Medien sind vergiftet, sie werden vollständig von der Wirtschaft kontrolliert - die wiederum die Waffen herstellt, mit denen wir uns vor dem Terrorismus schützen. Also: Wir werden desinformiert. Es gibt so viele Geheimnisse, die wir vor unseren eigenen Leuten verbergen, der KGB hat früher immer mehr über die USA gewusst als unsere eigene Bevölkerung.

Es ist viel von "Rache" die Rede, von "gerechter Rache". Gibt es so etwas?

Nun, die Griechen dachten "Nein", nachdem sie immer zivilisierter geworden waren. Ich erinnere mich an die Geschichte von den Musen ... und schliesslich kommt Apollo und sagt: "Schluss mit der Rache" - denn bei Rache gibt es niemals ein Ende. In den USA gibt es zur Zeit ganz sicher eine Art Begeisterung für einen Dritten Weltkrieg. Die Leute, die das Schreiben, scheinen sich überhaupt nicht bewusst zu sein, dass sie auch tot sein werden, denn wenn jemand diese zwei Türme in Manhattan in die Luft jagen kann, dann kann man auch die New York Times in die Luft jagen.

Wie würden Sie verfahren mit Osama bin Laden?

Ich bin sicher, dass man bin Laden nicht fangen wird - das schaffen wir doch sowieso nie. Die USA zum Feind zu haben, das ist doch praktisch so eine Art "Versicherung für langes Leben". Castro wäre schon längst an Altersschwäche gestorben, wenn er nicht unser Feind wäre, und Saddam Hussein sieht auch immer gesünder aus. Ich denke, in zehn bis zwanzig Jahren wird bin Laden als Ehrengast im Weißen Haus empfangen werden - falls er es bis dahin stehen lässt. Osama bin Laden hat ein paar kluge Dinge getan - eines war, zu zeigen, dass die Vereinigten Staaten angegriffen werden können, wann immer es ihm passt. Wenn wir eine intelligente Regierung hätten - was wir nicht haben - dann würden wir sofort eine UN-Vollversammlung einberufen. Wir sollten bin Laden auffordern, zu reden und uns all seine Einwände gegen unsere Handlungen vorzutragen. Wir sollten komplette Transparenz erreichen, wie Gorbatschow das genannt hat. Und dann würde die UNO sagen: "Lasst dies und jenes sein, hört damit auf." Und so würden wir die Sache zu einem vernünftigen Ende bringen. Bin Laden will doch genauso wenig sterben, wie die Passagiere von United Airlines sterben wollten - das ist eine von diesen selbstverständlichen Wahrheiten, die dumme Menschen, so wie die, die die Vereinigten Staaten regieren, niemals lernen.

Gegen wen führt Amerika eigentlich Krieg?

Ein wesentlicher Aspekt des amerikanischen Großreiches, der praktisch nie erwähnt wird, ist Eitelkeit. Marx zum Beispiel hat Eitelkeit nie verstanden. Aber Eitelkeit war es, die Julius Caesar und Alexander dem Großen zum Erfolg verholfen hat, und Eitelkeit war es auch, die jedem amerikanischen Präsidenten seit Roosevelt zum Erfolg verholfen hat - zumindest den effizienten. Warum musste der ach so tapfere Clinton eine Aspirin-Fabrik im Sudan bombardieren? - Eitelkeit. Warum Krieg gegen die Serben, bei denen wir überhaupt keine ökonomischen Interessen haben? - Eitelkeit. Und nun haben wir zwei Eitle gegeneinander ..

Was sollte jetzt geschehen, in Ihrem Heimatland?

Ich glaube, inzwischen ist genug schief gegangen, dass wir zurück nach Philadelphia (dem Ort der Verkündung der US-Verfassung, Anm. der Red.) gehen sollten - falls es noch steht - und eine neue Verfassung entwerfen - mal etwas Praktisches für das 21. Jahrhundert.

Sie haben eine gute Freundin bei dem Anschlag verloren. Gab es da neben Trauer auch ein aufkommendes Gefühl von so etwas wie Zorn oder Hass?

Man will doch jetzt nicht hingehen und ein paar Araber erschießen. Eher noch ein paar Amerikaner, die zugelassen haben, dass die Situation so außer Kontrolle geraten ist, dass so etwas passieren konnte .. Ich bin jemand, der immer wissen will, wieso die Dinge passieren. Etwas von dieser Größenordnung hat immer eine politische Ursache. Das ist es doch, worum es in der Politik geht: Die Gründe herausfinden und dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert.

Nun ist mit diesem Anschlag die Science Fiction von der Realität überholt worden. Sie sind zwar kein Science-Fiction-Schriftsteller, aber worüber werden Sie nach dem "Black Tuesday" schreiben?

"Da ich im Wesentlichen ein Satiriker bin, hätte ich ein viel lustigeres Drehbuch für den Schwarzen Dienstag schreiben können - allerdings mit viel weniger Blut. Was da vorliegt, ist doch einfach ein komplettes Missverständnis - und das ist ja das Herz von jeder Komödie oder Satire. Bush kapiert nichts, bin Laden kriegt auch nichts mit, jeder missversteht jeden ... und die Welt steht am Abgrund. Ich würde dem ganzen natürlich ein Happy End geben.



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