Das Öltier hat ein Ölgehirn an seiner Spitze
Johan Galtung ist norwegischer Friedensforscher und Träger des alternativen Friedensnobelpreises von 1987. Galtung lehrte an der Universität von Hawaii, der Universität von Witten/Herdecke und anderen. 1959 gründete er das Internationale Friedensforschungsinstitut (PRIO) in Oslo. Heute arbeitet er als Direktor am Entwicklungs- und Friedensnetzwerk "TRANSCEND".
Ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September erhebt der Träger des alternativen Nobelpreises, Johan Galtung, schwere Vorwürfe gegen die US-Regierung. Statt die Krise zu bewältigen, sagt der Friedensforscher im Interview mit SpiegelOnline, habe sie nur den Hass von noch mehr Menschen provoziert.
Als SpiegelOnline unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 den Friedensforscher Johan Galtung interviewte, forderte er einen Dialog der Kulturen als Grundlage für politische Entscheidungen und als Basis für eine Revision westlicher Wirtschaftspolitik. Knapp ein Jahr nach den Terrorschlägen und dem Beginn des Afghanistan-Feldzuges zieht Galtung eine Bilanz.
SpiegelOnline: Herr Galtung, nach dem 11. September 2001 kündigte die US-Regierung an, sie werde den internationalen Terrorismus nicht nur militärisch, sondern auch mit wirtschaftlichen und kulturellen Mitteln bekämpfen. Ist das gelungen?
Johan Galtung: Davon kann keine Rede sein. Kulturell ist so gut wie nichts geschehen. Der große Dialog hat nicht stattgefunden. In Deutschland kam es immerhin auf lokaler Ebene zu Begegnungen zwischen den Kulturen und Religionen. Andererseits wurden Goethe-Institute, nun, da man sie bräuchte, geschlossen.
Vor knapp einem Jahr sagten Sie, der Angriff auf das World Trade Center habe auch ökonomische Ursachen. Sehen Sie Fortschritte in der amerikanischen Wirtschaftspolitik hin zu einer gerechteren Welt?
Überhaupt nicht. Im Gegenteil: Die US-Wirtschaftspolitik wird ihrer globalen Verantwortung immer weniger gerecht. Nehmen Sie den Streit über die Stahlzölle. Die US-Regierung propagiert den Freihandel. Sobald es für die eigene Wirtschaft unbequem wird, errichtet sie Handelsschranken. Die Amerikaner teilen aus wirtschaftlichen Gründen den nahezu weltweiten Konsens über den Klimaschutz nicht, und auch auf dem Nachhaltigkeitsgipfel in Johannesburg stellen sie sich quer. In der Wirtschaftspolitik heißt es im Grunde: Die USA gegen den Rest der Welt.
Die Amerikaner haben als Reaktion auf den 11. September immerhin angekündigt, ihren Entwicklungshilfe-Etat bis 2006 auf 20 Milliarden Dollar zu verdoppeln.
Doch hilft diese Entwicklungshilfe wirklich? Inhaltlich ist sie in der Hauptsache Militärhilfe. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer.
Woher wissen Sie das? Militärhilfe wird gewöhnlich nicht aus dem Entwicklungshilfe-Etat bezahlt.
Oft fließen die Gelder in die Infrastruktur, die militärisch nutzbar ist.
Was würde wirklich helfen?
Wenn die Ressourcen in der so genannten Dritten Welt den Menschen vor Ort zugute kämen - erst zur Selbstversorgung, dann für den Handel. Grund und Boden für die Menschen, die den Boden brauchen, nicht nur für diejenigen, die den Boden kaufen können.
Macht Ihnen der Aufbau Afghanistans mit westlichem Geld nicht etwas Hoffnung?
Das Vorurteil vieler Afghanen und anderen, den USA sei es im Kampf gegen al-Qaida und gegen die Taliban vor allem darum gegangen, Ölreserven in der Region zu sichern und militärisch Fuß zu fassen, bestätigt sich. Warum überlassen sie das Öl und die Verarbeitung nicht den mittelasiatischen Staaten? Warum lösen sie ihre Militärstützpunkte in Kirgisien nicht wieder auf? Die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) und der Weltsicherheitsrat sollten in Afghanistan für Sicherheit sorgen. Dort steigt die Zahl derer rapide, die die Amerikaner nach 160 Jahren ausländischer Einmischung hassen.
Wie äußert sich dieser Hass?
Die Taliban und die so genannte Terror-Organisation al-Qaida haben Zulauf wie nie zuvor. Natürlich rennen die nicht herum und verteilen Visitenkarten: "Ich bin ein Taliban." Doch die Anhänger formieren sich neu und verfolgen weiter dieselben Ziele. Meiner Einschätzung nach ist al-Qaida ein Konstrukt Washingtons, eine typische Pentagon-Projektion. Wenn es einen Feind gibt, muss er nach den Vorstellungen der Pentagon-Strategen strukturiert sein wie ihre eigene Behörde: mit viel Geld ausgestattet und einem klar auszumachenden Führer.
Wollen Sie wirklich sagen, al-Qaida existiere nicht?
Die westliche Vorstellung der Organisation ist falsch, doch es gibt eine große Kraft, die meistens in Zellen, wie etwa in Hamburg, organisiert und durch Glaube verbunden ist. Millionen hassen nicht die USA, sondern deren Wirtschafts- und Militärpolitik.
Ist in Afghanistan also mit einem langen Krieg mit einem zunehmend diffusen Gegner zu rechnen?
Ja, doch nicht nur in Afghanistan. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, ob der Irak im Oktober noch vor den Kongresswahlen in den USA angegriffen wird oder im November nach den Wahlen.
Halten Sie einen Krieg gegen Saddam Hussein für gerechtfertigt?
Nein. Denn es gibt keine Beweise, dass der Irak Massenvernichtungsmittel herstellt. Die Verbündeten der USA haben zu wenig Mut, diese von Präsident Bush einzufordern.
Hussein ist mit Massenvernichtungsmitteln bereits gegen die Kurden im eigenen Land vorgegangen.
Er hat das Beispiel nachgeahmt, das Großbritannien 1922 im Irak vorgegeben hat. Die Engländer haben einen irakischen Aufstand mit Giftgas niedergeschlagen.
Aus welchem Grund sonst soll der Irak ins Visier der Supermacht geraten sein?
Den USA geht es in Wahrheit darum, ihren Ölnachschub zu sichern und einen neuen Militärstützpunkt im Mittleren Osten zu gewinnen, nachdem der bisherige Verbündete Saudi-Arabien wegfällt.
Warum sind die Saudis kein geeigneter Partner mehr?
Das Verhältnis der Saudis zu den Amerikanern ist zunehmend geprägt durch das Aufeinanderprallen zweier Fundamentalismen: dem des islamischen Wahabismus, der in Saudi-Arabien Staatsreligion ist, und dem des christlichen Puritanismus, von dem die US-Regierung durchdrungen ist.
Verschränkt sich also beim Feldzug gegen den Terror eine Kollision aus wirtschaftlichen Interessen mit einer, die auf kulturellen Verschiedenheiten beruht?
So könnte man sagen. Das Öltier USA mit einem Ölgehirn an der Spitze (Präsident George W. Bush besaß eigene Firmen im Ölgeschäft, Vizepräsident Dick Cheney leitete den texanischen Ölkonzern Halliburton, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice saß im Aufsichtsrat von Chevron, sogar ein Öltanker wurde nach ihr benannt) ist gefräßig. Andererseits finanziert das saudische Königshaus - versehen mit der fundamentalistischen Überzeugung, dass Arabien ein auserwähltes, heiliges Land sei - die palästinensischen Selbstmordattentäter gegen Israel und bringt Extremisten hervor, die gegen den Westen operieren. Deswegen ist die amerikanisch-israelische Lobby AIPAC (amerikanisch-israelisches politisches Aktionskomitee) in Washington sehr aktiv gegen Saudi-Arabien und für den Krieg gegen den Irak.
Wie lässt sich diese Situation auflösen?
Was dringend nötig wäre, ist eine kulturelle Mobilisierung gegen beide Fundamentalismen und ein wirtschaftliches Umdenken, bei dem es nicht nur um Profit, sondern auch um Gerechtigkeit geht. Und eine multilaterale Lösung für Israel/Palästina, eine Nahost-Gemeinschaft, etwa wie die Europäische Gemeinschaft in der ersten Phase mit Deutschland und seinen fünf Nachbarländern.
Das Gespräch führte Alexander Schwabe bei SpiegelOnline